Alexander Solschenizyn: Der Mann, der aus dem Gulag kam - WELT (2024)

Mitte Februar 1974 wies die Sowjetunion ihren prominentesten Schriftsteller aus, den Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn. Er hatte sich mit seinen Werken über das System der stalinistischen Straflager unbeliebt gemacht. Es war der Beginn einer kleinen Odyssee.

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Die Ausweisung begann mit einem Klingeln: Wenige Minuten nach 17 Uhr Ortszeit läutete es am 12. Februar 1974 an der Tür zur Wohnung von Natalia Solschenizyn in der Moskauer Gorkistraße Nr. 12. Sie öffnete die Tür einen Spalt, soweit es die vorgehängte Kette zuließ. Auf die Frage, wer da sei, hörte sie eine Stimme, die sie kannte: Derselbe Mann hatte am Vortag die zweite Vorladung für ihren Mann überbracht.

Inzwischen war Alexander Issajewitsch Solschenizyn selbst an die Wohnungstür getreten und löste die Kette. Sofort stürzten acht Männer, teils in Zivil, teils in Uniform, in den Flur und umringten den 55-jährigen Schriftsteller. Als er sagte: „Ich gehe nicht freiwillig“, bekam er die Antwort: „Dann nehmen wir Sie eben unter Zwang mit.“ Rein formal war Solschenizyn zumindest zum Teil im Recht: Beide Vorladungen waren nicht korrekt ausgefüllt, vor allem fehlte der Grund für die angesetzte Vernehmung.

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Trotzdem kam sie nicht überraschend: Der Literatur-Nobelpeisträger von 1970 durfte nämlich streng genommen gar nicht in der Wohnung seiner Frau sein – er hatte keine Aufenthaltsgenehmigung für die sowjetische Hauptstadt. Den ganzen Tag schon war das Haus auffällig unauffällig observiert worden, sodass eigentlich nur der Moment des Zugriffs offen blieb.

Alexander Solschenizyn: Der Mann, der aus dem Gulag kam - WELT (1)

Doch Solschenizyns Weg führte nicht wie befürchtet zurück in eines der sowjetischen Straflager, in denen er schon 1945 bis 1953 (mit anschließender Verbannung bis 1957) hatte leben müssen – weil er in Briefen an einen Freund Stalin kritisiert hatte. Vielmehr setzten die Behörden ihn in die reguläre Morgenmaschine der Aeroflot nach Frankfurt/Main, wo der nun offiziell ausgewiesene und damit staatenlose Autor am 13. Februar 1974 gegen 16 Uhr ankam.

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Der Grund für die Ausweisung: Solschenizyn hatte im Herbst 1973 bei einem Exilverlag in Paris auf Russisch den ersten Band seines Werkes „Der Achipel Gulag“ veröffentlicht; Übersetzungen in Englische, ins Deutsche und in weitere Sprachen waren in Vorbereitung. Dieses Buch, eigentlich ein literarisiertes Sachbuch, war das Ergebnis vieler Kontakte mit Überlebenden des sowjetischen Straflagersystems. Sie hatten sich nach Erscheinen der Novelle „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ 1962 an Solschenizyn gewandt.

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Die Erzählung hatte in der kurzen Phase des innenpolitischen Tauwetters dank Nikita Chruschtschows persönlicher Intervention erscheinen können. In dem nur 120 Seiten starken Text hatte Solschenizyn in Manier des russischen Realismus seine eigene Erfahrung in Sibirien verarbeitet. Vor allem für dieses Werk war er mit dem Nobelpreis geehrt worden, der zugleich als politische Würdigung für den aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossenen Dissidenten gedacht war. Doch Solschenizyn war nicht zur Preisverleihung nach Stockholm gereist, weil er befürchten musste, danach nicht wieder einreisen zu dürfen. Genau das hatte Juri Andropow, damals erst relativ kurz Chef des KGB, auch geplant – allerdings stimmte das Politbüro nicht zu.

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Am 8. August 1971 versuchten KGB-Agenten, Solschenizyn mit Gift zu töten – vielleicht mit Rizin, an dem 1978 der Exil-Bulgare Georgi Markow in London starb. Jedenfalls lag der Schriftsteller monatelang ohne erkennbaren Grund darnieder, überlebte aber. Andropow gab nicht auf: Im März 1972 schlug er erneut Solschenizyns Ausbürgerung vor, abermals erfolglos.

Vorläufige Heimat Zürich

Beim dritten Anlauf in der zweiten Februar-Woche 1974 hatte Andropow Erfolg. Freilich nicht ohne erheblichen Druck: In einem Brief an Parteichef Leonid Breschnew deutete er an, in der Führung der KPdSU und der sowjetischen Armee könne es zu Verwerfungen kommen, falls sein Vorschlag abermals abgelehnt würde. Solschenizyn hatte also das richtige Gespür, als er sich weigerte, der formal unzureichenden Vorladung Folge zu leisten. Gegen die Gewalt durch den KGB konnte er sich nicht wehren.

Am Frankfurter Flughafen holte ein Auto der Bundesregierung den Exilanten wider Willen ab und brachte ihn zunächst ins Haus von Heinrich Böll in die Eifel. Der linke Schriftsteller, ebenfalls Nobelpreisträger und gerade Präsident des internationalen PEN-Clubs, nahm Solschenizyn zunächst auf. Schon nach zwei Nächten reiste der Gast weiter nach Zürich, wo er blieb, um den zweiten Band von „Archipel Gulag“ zu beenden; hierhin durften ihm am 29. März 1974 seine Frau und vier Kinder folgen.

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Am selben Tag schrieb Axel Springer (in dessen Verlag WELT AM SONNTAG damals erschien und heute erscheint) einen Brief an den Exilanten. „Sehr geehrter Herr Solschenizyn, in Gedanken habe ich Ihnen schon oft geschrieben – während der Zeit Ihres Kampfes und Ihrer Gefährdung“, begann der Verleger: „Mein Brief, den ich nun an Sie richte, da Sie und Ihre Familie einen Platz gefunden haben, an dem Sie leben wollen, ist ein Dankesbrief.“

Springer, der unter dem Linksschwenk der westdeutschen Öffentlichkeit seit 1967 sehr litt und auch persönlich immer wieder heftig attackiert wurde, schloss seinen Brief mit einer Bitte und einem Angebot: „Nehmen Sie uns bei der Hand und führen Sie uns mit Gottes Hilfe aus den Verirrungen, denen unsere Welt zu erliegen droht. Sagen Sie uns, was wir tun können, um Ihren Freunden in Russland, um Ihrem großen, gequälten Volk, um allen, die ohne Freiheit sind, helfen zu können, soweit es in unserer Macht steht.“

Zur nächsten Buchmesse im Oktober 1974 startete der Ullstein Buchverlag, seinerzeit ebenfalls Teil von Springers Unternehmen, die Literaturzeitschrift „Kontinent“ für Ostblock-Dissidenten – Solschenizyn war auf dem Cover der ersten Nummer abgebildet. Knapp zwei Monate später nahm er in Stockholm nachträglich seinen Nobelpreis entgegen. Die Auszeichnung habe „verhindert, dass ich von den schweren Verfolgungen, denen ich unterworfen war, erdrückt wurde“, sagte er in seiner Dankesrede: „Der Preis hat mir geholfen, Dinge zu sagen, die sonst nicht hätten gesagt werden können.“

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In der Schweiz kam die aus der Heimat abgeschobene Familie erst einmal zur Ruhe. Der zweite Band des „Archipel Gulag“ erschien, außerdem autobiografische Notizen aus der Zeit seiner Verfolgung unter dem Titel „Die Eiche und das Kalb“. Bei anderen Exilanten kam gleichzeitig Kritik an Solschenizyns Gestus auf, oft pauschal für das ganze „russische Volk“ zu sprechen. Manches daran war sicher Neid, manches aber auch berechtigt.

Auch die neue Heimat verschonte Solschenizyn nicht. So warnte er im März 1976 drastisch: „Ich finde es unbegreiflich, wie man seine geistige Stärke, seine Willenskraft verlieren kann. Wie man Freiheit besitzen kann und sie nicht zu schätzen weiß, geschweige denn Opfer dafür zu bringen bereit ist.“ Rücksichtnahme war ihm fremd: „Der Westen steht am Rande des Zusammenbruchs. Die Sowjetunion braucht keinen Atomkrieg zu führen, um den Westen zu erobern. Sie kann ihn mit bloßen Händen nehmen. Wozu einen Atomkrieg, wenn Ihr mit erhobenen Händen kapituliert?“

Im Oktober 1978 suchte Axel Springer Solschenizyn in dessen Haus im US-Bundesstaat Vermont auf. Nach dem Treffen bedankte sich der Verleger für die langen Gespräche in „jäh erwachter, aber andauernder Freundschaft“. Die beiden waren sich einig, zwar nicht in allen Fragen, aber in einigen wesentlichen. „Meinen Sie, dass jedes Volk seine eigene Persönlichkeit habe, so wie ein Individuum?“ fragte Solschenizyn etwa. „Genau das meine ich“, erwiderte Springer. „Dann stimme ich darin mit Ihnen überein“, lautete die Antwort laut dem Protokoll im Verleger-Nachlass.

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In den 1980er-Jahren blieb Solschenizyn ein prominenter exilrussischer Schriftsteller, aber die westliche Öffentlichkeit hatte sich an ihn gewöhnt. Zugleich wandte er sich immer stärker ins nationalrussische Pathos. Sein Lebenswerk sollte ein auf zehn Teile angelegter Roman über Russland in der Zeit von 1914 bis 1922 werden, unter dem Obertitel „Das rote Rad“.

Der erste Band „August vierzehn“ über den Beginn des Ersten Weltkrieges war 1971/72 in Vorabversionen erschienen (und 1987 stark erweitert), der zweite Band „November sechzehn“ folgte 1986, der dritte Teil „März siebzehn“ 1987. Den vierten Band „April siebzehn“ stellte Solschenizyn 1991 noch fertig, brach das immer mehr ausufernde Werk dann aber ab.

Rückkehr nach Russland

Inzwischen war die Sowjetunion untergegangen, und Russland knüpfte unter dem neuen Präsidenten Boris Jelzin an die nationale Vergangenheit an. Solschenizyn wurde rehabilitiert und kehrte in seine Heimat zurück, zeigte sich aber ungnädig mit den Folgen der Transformation. Jetzt schlug seine nationalistische Seite voll durch. Und sein traditionell russischer Antisemitismus. 2001/02 veröffentlichte er den Zweibänder „Zweihundert Jahre zusammen“ über Juden und (meist orthodoxe) Christen in Russland seit 1795. Wie die meisten seiner Bücher uferte auch hier der Umfang aus (die deutsche Fassung hatte 1568 Seiten), aber das Niveau lag weit unter dem des „Archipel Gulag“. Der Publizist Gerd Koenen nannte Solschenizyns letztes Werk den „Nagel zum Sarg seiner Reputation in der westlichen Öffentlichkeit“.

Dazu passte, dass sich der früher von Andropow und seiner Geheimpolizei verfolgte Alexander Solschenizyn nun vom ehemaligen KGB-Offizier und Machthaber im Kreml Wladimir Putin hofieren ließ. Im August 2008, vier Monate vor seinem 90. Geburtstag, starb Alexander Solschenizyn – der Mann, der aus dem Gulag gekommen war.

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